Traditionelle Europäische Medizin

Traditionelle Europäische Medizin

Was ist die Verbindung zwischen traditioneller chinesischer oder tibetischer Medizin, dem Ayurveda und der traditionellen Medizin Europas? Alle glauben, dass Leben aus den verschiedenen Elementen der Natur zusammengesetzt ist, und dass Krankheit das Überwiegen eines dieser Elemente darstellt.

In Europa unterscheidet man die warmen Elemente Feuer und Luft und die kalten Elemente Wasser und Erde. Als Hippokrates um 400 v. Chr. – etwa zur gleichen Zeit der ältesten chinesischen Aufzeichnungen – davon sprach, konnte er bereits auf eine lange Tradition zurückgreifen. Das Papyrus Ebers, eine der ältesten Schriften überhaupt, eine Aufzählung von 700 Heilpflanzen – wurde vor etwa 3500 Jahren geschrieben, war also zu seiner Zeit bereits mehr als tausend Jahre alt.

Diese Heilpflanzen nach ihren Eigenschaften zu ordnen und sie als Gegengifte bei Krankheiten einzusetzen, war eine große kulturelle Leistung, die fünfhundert Jahre später von Claudius Galenus, den Leibarzt des römischen Kaisers weiterentwickelt wurde. Galen ordnete die Elemente einzelnen Körpersäften zu, eine Heillehre, die in Europa bis in das 19. Jahrhundert gültig war und es an Differenziertheit durchaus mit dem indischen Ayurveda, das heute praktiziert wird, aufnehmen kann.

Heute formt diese Lehre, die wir in der Klostermedizin bis heute kennen, die Basis allen naturheilkundlichen Denkens. Die europäische Tradition geht aber weit über diese Wurzel hinaus, da mit dem Aufstieg des Christentums neben der Mischung der Elemente eine bedeutende Kraft den Menschen formt: Seine von Gott geschenkte Seele.

Der Europäer ist nach seiner Überzeugung im Angesicht Gottes geschaffen. Er trägt einen göttlichen Funken in sich. Dieser Adel verpflichtet, denn wer eine Seele hat, trägt im Leben auch eine Sendung in sich, die erfüllt werden muss. Wer von diesem Weg abkommt und zu scheitern droht, wird krank. Dieses Konzept tritt neben die Elementelehre und unterscheidet den europäischen Menschen stark vom asiatischen Menschen. Der Europäer braucht den Erfolg, und Krankheit ist oft gleichzusetzen als Eingeständnis von Erfolglosigkeit.

Diese zweite Wurzel der europäischen Medizin stammt aus der babylonisch-assyrischen Kultur. Wir haben von ihr aus Tafeln in Keilschrift erfahren, die 4000 Jahre alt sind und aus der Zeit des Königs Assurbanipal stammen. Ihnen zufolge wird Krankheit durch Dämonen verursacht als Strafe Gottes. Heilung ist Exorzismus, nämlich ein Reinungsprozess, bei dem sich die Seele läutert. Wer diese Wurzel vernachlässigt, wird Schwierigkeiten haben, den europäischen Menschen zu heilen. Hier greifen die auf Ausgleich bedachten Heilmethoden Asiens, sei es die traditionelle chinesische Medizin oder das Ayurveda, zu kurz.

Und nun tritt zur europäischen Medizin noch eine dritte Wurzel: Die Hexenmedizin. Wir kennen sie heute fast nur mehr aus den Zerrbildern der mittelalterlichen Mönche, die bis zum Beginn der Neuzeit und darüber hinaus im Kampf um die geistige und religiöse Vormacht das Hexenwesen bekämpften. Erkennbar sind die Grundzüge der Hexenmedizin aber noch bis heute. Sie hat offenbar eine Tradition, die aus dem Altertum stammt und sich mit germanisch-keltischen Anteilen vermischt hat. Medizinisch interessant ist hier der unendliche Wissensschatz der Baumtherapien. Da Bäume den Germanen die Verkörperung ihrer Götter waren, wurden die Rinde, die Blätter oder der Saft der Bäume, der ihre Lebensessenz beinhaltet, zu den wirksamsten Arzneien. Und noch etwas haben uns die Hexen geschenkt: Die Anwendung von Giften in geringen Dosen zur Heilung von Krankheiten. Diese Tradition bildet die Basis der Homöopathie und der anthroposophischen Medizin Rudolf Steiners. Neben der Elementelehre kennen diese Heilmethoden noch ein Weiteres, das wir von unzähligen Naturvölkern kennen: Die Signaturenlehre. In Europa ist damit gemeint, dass die göttliche Schöpfung für jede Krankheit ein Gegengift bereithält und sich über ein Signum – ein Zeichen – dem Kranken mitteilt. So wurden Pflanzen mit rötlichem Saft für die Behandlung von Entzündungen oder bei Blutarmut eingesetzt, da deren Farbe einen Zusammenhang nahe legte.

Wir sehen schon: Europa war über Jahrtausende der Sammelpunkt verschiedener Kulturen, aus denen sich zumindest drei wichtige medizinische Traditionen ergeben. Alles zusammengenommen entsteht so ein unglaublicher, von einem Einzelnen kaum zu beherrschender Wissensschatz, der in der Geschichte der Menschheit einmalig da steht.

Der erste, der ihn zu heben versuchte, war der im Jahre 1493 in der Schweiz geborene und in Kärnten aufgewachsene Arzt beider Fakultäten, Paracelsus. Er hatte als Absolvent Universitäten von Wien und Ferrara das gesamte schulmedizinische Wissen seiner Zeit kennen gelernt und begab sich danach auf eine lebenslange Reise durch die europäischen Länder, die erst mit seinem Tod enden sollte. Auf dieser Irrfahrt, so schrieb er später, fragte er „fleißig und emsig an allen Enden und Orten“ nach, wie sich dieses Wissen noch vermehren könnte. Er war sich nicht zu schade, dabei auch bei Außenseitern der Heilkunst nachzuforschen. So konnte er mit der Zeit das ganze Heilwissen Europas kennen lernen.

Seine wichtigste Erkenntnis war jene, dass es über die Lebenskraft, die in Asien Grundbedingung einer Heilung darstellt, eine Kraft im Menschen gibt, die weit über die Lebenskraft hinausgeht. Er nannte diese Kraft den „Archeus“ und meinte damit eigentlich die unsterbliche Seele, die auf dem Weg zur Erfüllung ihrer Bestimmung tatkräftig und unermüdlich die Materie unterwirft und sich gefügig macht. Diese Gestaltungskraft ist der Nährboden des Erfolgs. Ohne auf sie zurückzugreifen, kann man nicht heilen.

Jeder Naturheiler sollte versuchen, aus dem gesamten Erfahrungsschatz der traditionellen europäischen Medizin zu schöpfen. Grundbedingung ist das Verständnis des europäischen Menschen und seines „Archeus“. Zwar leben wir in einer Zeit, in der die menschliche Seele sich mitunter weit von Glaubensinhalten entfernt hat. In jedem Fall aber wird sie eine Sehnsucht antreiben, und Krankheit ist in der Regel ein Hindernis auf dem Weg zu dieser Sehnsucht. Wer heilen will, muss die Sehnsucht erkennen und versuchen, den Weg zu ihr frei zu räumen. Erst wenn man weiß, wie ein Kranker „tickt“ und wohin er möchte, wird man ihn therapieren können.

Als nächstes sollten wir die Arzneien, die wir anwenden, seiner Krankheit zuordnen können. Meiner Ansicht nach reicht es nicht aus, von einer Pflanze zu wissen, dass sie beispielsweise eine Magensaft anregende oder antibiotische oder stimmungsaufhellende Wirkung hat, die sich chemisch erklären lässt. Die Elementelehre hilft uns hier weiter, indem etwa ein Mensch, der leicht friert und Wasser einlagert, als einer erkannt wird, der von trocknenden und wärmenden Pflanzen profitieren kann. Das wird bei Brennnesseltee, der die Nierenfunktion anregt und zu erhöhter Wasserausscheidung führt, chemisch erklärbar. Anders aber steht es bei Senfsamen, die die Nase von Schleim befreien und so an anderer Stelle „trocknen“. Diese wird man bei einem Überhang des Elementes Wasser erst einsetzen, wenn man die Elementelehre berücksichtigen gelernt hat.

Ein anderes Beispiel: Wenn ich heute einen Menschen sehe, dessen Gesicht rötlich gefärbt ist, der unter Magenschleimhautentzündung leidet und außerdem Nierensteine hat, sehe ich nicht mehr verschiedene Ursachen, sondern eine einzige: Einen Überschuss des Elementes Feuer, das innerliche Hitze und Trockenheit verursacht hat. Hier werden kühlende und befeuchtende Pflanzen wie zum Beispiel Lattich oder das Veilchen als Salatbeigabe, oder kühle Getränke hilfreich sein.

Wo das therapeutische Erstgespräch das Verständnis sucht, was den „Archeus“ des Kranken behindert, und wie er wieder zu einem nach seiner Fasson erfolgreichen Leben finden kann, wird die Einstufung nach der Elementelehre und die Verordnung gegensätzlich wirkender Arzneien erste Erfolge zeigen. So begibt man sich auf einen Weg, der letztendlich zur Heilung finden wird. Auf diesem Weg kann ein sorgfältig nach der Signaturenlehre gewähltes Homöopathikum, eine aus der Klosterheilkunde stammende Entschlackung mit Gebeten oder ein Hexenritus, der die Zyklen von Mutter Natur berücksichtigt, aus dem reichen Arzneischatz der traditionellen europäischen Medizin dort einfließen, wo man vom Weg abgekommen ist. Aber auch das Wissen der europäischen wissenschaftlichen Medizin und die neuesten technologischen Entwicklungen seit dem 19. Jahrhundert sind Teil der traditionellen europäischen Medizin, samt aller invasiven Methoden, die gerade bei Notfällen mitunter unersetzlich sind.

Es ist meine feste Überzeugung, dass die kluge und umfassende Anwendung unserer reichen Tradition nach dem Prinzip „So schonend wie möglich, so effektiv wie nötig“ den Königsweg zur Heilung darstellt, und das umso mehr, je stärker dabei die Erfahrungen und Rezepte unserer Vorfahren zur Anwendung kommen.